Kürzlich war der 8. Mai. Der Tag, an dem sich die bedingungslosen
Kapitulation der deutschen Wehrmacht jährte. Der Tag der Befreiung. Der Tag, an
dem der Krieg für Deutschland offiziell endete. Der V-E - Victory in Europe -
Day.
Das ist ein gutes Datum für einen Gedenktag. Denn wir
können letztlich verdammt froh sein, dass dieser Konflikt ein Ende gefunden
hat. Und auch, wenn es nervt, immer noch und immer wieder auf dem Thema
herumzureiten, ist es ein Teil unserer Geschichte und an einem Tag wie diesem
darf und soll man sich sogar ganz genau daran erinnern.
Ich bin Deutscher. Und dementsprechend konnte ich niemals
auf einfache Weise meiner Erbsünde entkommen. (Ja, ich nenne das so.)
Mein Opa war in der Wehrmacht, mein Stief-Opa sogar in
der Waffen-SS. Und zumindest von meinem Opa weiß ich, dass er sich für sein
Land geschämt hat, nachdem er aus zehn Jahren russischer Kriegsgefangenschaft
zurückkehrte, in denen er meiner Meinung nach genug gebüßt hat.
Tatsächlich glaube ich nicht einmal an Buße. Nur an Reue.
Und die hat er empfunden. Das weiß ich genau.
Ich gedenke an diesem Tag also durchaus auch seiner. Und
all der anderen Toten. Ohne dabei einen Unterschied zu machen, ob sie nun in
einem KZ auf einem Schlachtfeld oder in den Trümmern eines zerbombten Hauses
starben. Mir tut jeder Mensch leid, der bei diesem Konflikt ums Leben kam.
Sicherlich tun mir die Leute, die in den KZ steckten,
noch einmal um ein Vielfaches mehr leid für die Qualen, die sie durchleiden
mussten. Insbesondere diejenigen, die überlebten und mit diesen Traumata fertig
werden mussten, haben mein volles Mitgefühl.
Aber - und an dieser Stelle muss ich das setzen - ich
empfinde auch Mitleid für andere, die gelitten haben.
Ich bin etwa dreißig Jahre nach Ende dieses Krieges
geboren worden. Und ich trage keine Verantwortung dafür. Ich kann nur auf das
blicken, was ich von denen erzählt bekomme, die dabei waren. Und unter denen
sehe ich nicht nur in den Augen ehemaliger KZ-Insassen niemals endenden
Schrecken.
Ich will keine Leidenswege schmälern und niemandem von
denen vors Schienbein treten, die damals gelitten haben. Aber ich muss jedes
Mal, wenn es um den Krieg geht, an meine Oma denken. Die lebt nämlich noch und
war mir ganz einfach die nächste Person in meiner Kindheit.
Heute weiß ich, wieso sie oft nachts aufgewacht ist.
Warum sie gewisse Berührungen nicht ertragen konnte. Und weswegen sie immer irgendwann
abbrechen musste, wenn über den Krieg gesprochen wurde.
Heute weiß ich, was einem Mädchen damals angetan wurde,
als der Krieg schon fast vorbei war. Einem Mädchen, das noch nicht einmal in
der Pubertät war. Von Fremden, die sie büßen und bluten und leiden ließen für
die Sünden ihrer Väter.
Das alles muss ich meiner Meinung nach als Einleitung
voranschicken, wenn ich mich dem zuwende, was neulich heute auf die Palme
gebracht hat:
Leute, die voller Jubel und Fröhlichkeit den Sieg der
Roten Armee über den Faschismus feiern.
Ich weiß, dass meine Oma nicht in diesen Jubel mit
einstimmen kann. Ich denke, sie würde viel geben, um nicht von der Roten Armee
befreit worden zu sein, denn auf der anderen Seite von Deutschland hätten ihre
Chancen wesentlich besser gestanden, nicht zu erleben, was sie nun einmal
erlebt hat.
Ich kann angesichts dieser Gedanken nicht nachvollziehen,
wie heute Leute, die selbst nicht dabei gewesen sind, mit irrem Blick
zelebrieren, wie die Rote Armee Rache genommen hat für das, was ihrem Land und
ihren Leuten angetan wurde.
Für mich ist das in etwa das Gleiche, wie irgendwelche
Feiern zu Ehren des Dritten Reiches. Es ist in meinen Augen unangemessen.
Insbesondere bei der Roten Armee.
Ich will gar nicht über das reden, was man diesem
militärischen Arm der Sowjetunion insgesamt so vorwerfen kann. Das passierte
letztlich danach und gehört zu einem anderen Kapitel der Geschichte. Mir geht
es nur um die Massenvergewaltigungen und Gräueltaten, die bei der Eroberung
Deutschlands begangen wurden.
Natürlich… Die Deutschen als Volk haben ihrerseits sogar
noch viel grausamere Dinge getan. Obwohl ich den Standpunkt vertrete, dass es
nicht grausam, grausamer und am grausamsten gibt. Wenn etwas grausam ist, dann
ist es jenseits der Grenze dessen, was Menschen anderen Menschen antun sollten.
Und alles, was davon betroffen ist, steht an der Spitze der schrecklichen Dinge
gemeinsam auf Platz eins.
Selbst ein einziger Foltermord an einem KZ-Insassen durch
ein Regime wäre schon genug, um diesem Regime die Macht zu entziehen. Jeder
weitere Mord und jede weitere Folter bestätigt das nur.
Aber davon mal ab war es nicht einfach das gesamte Volk,
das diese Taten begangen hat.
Meine Oma war keine zwölf Jahre alt, als der Krieg in
Europa endete. Sie hat sich nicht einmal eine Schuld durch Unterlassung
aufgeladen, denn sie hat gar nicht verstanden, was mit den Menschen geschah,
die verschwanden. Sie war ein Kind.
Und sie war auch noch immer ein Kind, als sie
vergewaltigt wurde. Von wie vielen Soldaten weiß ich nicht und ich werde sie
auch nicht fragen. Aber ein einziger reicht ja auch schon, nicht wahr?!
Für mich ist damit der Befreier und Bezwinger des
Nazi-Regimes letztlich um keinen Deut besser als die Menschen, die im Namen
dieses Regimes gemordet und gefoltert haben.
Rache ist keine Rechtfertigung für diese Art von Tat.
Rache ist ohnehin keine gute Rechtfertigung. Und wenn, dann hat sie sich gegen
den ursprünglichen Täter zu richten und nicht gegen dessen Kinder oder
irgendwelche Leute, die dessen Nationalität teilen.
So wie mir vor Wut, Trauer und Mitgefühl die Tränen
kommen, wenn ich an die KZ-Opfer denke, so kommen mir die Tränen, wenn ich an
meine Oma denke. Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem misshandelten Kind
in einem der Vernichtungslager und diesem elfjährigen Mädchen, das von einigen
Soldaten benutzt wurde, um Rache zu üben.
Beide haben mehr gelitten, als es ein Mensch verdient.
Und das ist nicht richtig. Das ist kein Grund zu feiern.
Aber das wirklich schreckliche an dieser ganzen Sache
ist, dass all das Gerede über die Lektionen, die wir als Deutsche daraus
gefälligst lernen sollen, leer ist.
Der Hass und die pauschalisierte Feindschaft gegenüber
Andersdenkenden, die im Dritten Reich den Grundstein für die KZs bildeten, sind
nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart.
Was damals der Nazi oder der Jude war ist heute beispielsweise
der Moslem.
Nicht in jedermanns Augen. Klar. Aber das war auch damals
nicht der Fall. Auch damals gab es Menschen, die auf das Individuum geschaut
haben. Und es gab auf der anderen Seite die, die sich gegen das Fremde
einspannen ließen, ohne weiter nachzudenken.
Heute werden wir vielleicht keinen Vernichtungskrieg gegen den Islam beginnen.
Aber ausschließen würde ich das nicht. Befürworter dafür gibt es. Und die
Lektionen aus dem Zweiten Weltkrieg sind bei diesen Leuten ebenfalls mal
angekommen. Und ungehört verhallt.
Wenn man also den einen, winzigen Sinn im Leid all der
Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs finden konnte, das wenigstens kommende
Generationen aus dem Schrecken eine Lehre ziehen, dann sind all diese Menschen
gleich noch einmal vollkommen sinnlos gestorben.
Die Angst vor und der Hass auf das Fremde sind stärker.
Jede Lektion verblasst demgegenüber. Zumindest bei einigen Menschen, von denen
wiederum manche die Macht in der Hand halten.
Und andere Menschen hätten wiederum niemals diese
schreckliche Lektion gebraucht, weil sie von ganz allein wissen, was falsch und
was richtig ist.
Für mich ist dieser Tag - dieser 8. Mai - also ein
Trauertag. Es gibt nichts zu feiern, denn es interessiert kein Schwein mehr,
was vor Jahrzehnten geschah. Nicht, wenn aktuelle Interessen bedroht sind.
Nicht, wenn es um Geld oder Macht geht.
Pyrrhus sagte einmal: „Noch so ein Sieg und wir verlieren
den Krieg.“
So ähnlich würde ich es auch formulieren: Mit jedem
solchen Sieg (wie am 8. Mai 1945 über ‚das Böse‘) kommen wir dem Sieg über die
Fehler der Menschheit… keinen Schritt näher.
Und deswegen gibt es da auch nichts zu feiern.
In diesem Sinne…
…nachträglich ‘happy‘ V-E-Day.
Es ist ein Gedenktag. Der bis jetzt letzte Weltkrieg ging zu Ende. In sofern kann man ihn schon irgendwie beachten. Für die Russen war es ein ganz entscheidendes Erlebnis. Sie hatten zum ersten Mal seit langen wieder gegen einen bedeutenden Gegner gesiegt. Der letzte Sieg dieser Größenordnung war gegen Napolion fast 150 Jahre zuvor. Alle anderen Konflikte, wie der Krimkrieg, der Krieg gegen Japan 1905, der erste Weltkrieg oder auch der Krieg gegen Polen gingen verloren.
AntwortenLöschenIch denke aus dieser Sicht muss man die Feier der Russen zu diesem Ereignis sehen.
Dass das Verhalten der damaligen Siegermächte nicht wirklich unseren heutigen Vorstellungen von heldenhaften Befreiern entspricht, ist unbestreitbar. Aber mal ehrlich. Das waren ganz andere Zeiten. Ich denke mit dem heutigen humanistischen Denkansatz kann man diese Zeitepoche und das Verhalten der Akteure in dieser Zeit kaum begreifen. Das, was uns aus dieser Zeit evolutioniert hat, waren die technischen Errungenschaften. Anti Baby Pille, Kommunikationsmittel und Wohlstand haben uns dazu gebracht, dass wir nun vermutlich so schnell keinen großen Krieg mehr anfangen werden. Kein wohlhabendes Land würde im Moment einen Krieg gegen einen Gegner führen, der auch nur begrenzte Gegenschlagkapazitäten hätte. In Ländern, in denen die meisten Menschen nur noch 1,x Kinder haben, ist doch niemand bereit, ein Kind für einen Acker zu Opfern.
Eine Gefahr besteht in meinen Augen vorallem durch Drohnen und Roboterkriege in den nächsten 50 Jahren.