Montag, 19. August 2013

Regenbogenmomente - Fremde Freude


Ein seltsamer Abend war das.
Ein älteres Mitglied der Familie singt in einem Shanty-Chor und sich ewig zu drücken kommt auch blöd. Da eine Freundin des Chormitglieds aus der Schweiz auch noch zu Besuch war und man sich noch nicht kannte, war ich also gerade für zwei Stunden in einem Hotel, wo ich mir den Chor angehört habe. Zusammen mit insgesamt drei Bussen voller Rentner, für die das ihr abendliches Entertainmentprogramm war.

Um mich nicht missverständlich auszudrücken: Ich habe nichts gegen Shantys. Ich war Seemann, ich werde die See immer ein wenig lieben und solche Musik erinnert mich daran. Das ist fein.
Lieber als ausschließlich deutsche Seemannslieder ist mir ein gemischtes Programm. Aber ich schätze auch die deutschen Lieder, weil ich mit den Marinetraditionen vertraut bin und sie einen sicheren Platz in meinem Herzen haben.
Meine geringe Vorfreude hatte also eher mit dem Ambiente des Events zu tun. Und auch damit, dass ich noch nicht wusste, wie die Besucherin aus der Schweiz sein würde. Und natürlich damit, dass man von mir hinterher erwarten würde, meine Meinung zur Sangeskunst abzugeben und dergleichen. Etwas, dem ich - zu Recht - nicht mit Freuden entgegenblickte, denn es ist kein Profi-Chor. Eindeutig nicht.

Alles in allem lief das Event dann auch wie erwartet. Was nicht unerfreulich, aber auch keinen Blogpost wert gewesen wäre - wäre da nicht diese eine Sache gewesen. Aber eins nach dem anderen…
Die Gesellschaft der Damen war wie erwartet angenehm. Wir hatten anfangs Spaß dabei, die Sache nicht ganz ernst zu nehmen. Was bei der Rampensau auf Speed, Koks und Klebstoff, die den Chorleiter mimt, auch schwergefallen wäre.
Der Gesang war laut, aber die Lieder waren erkennbar. Und wir waren nicht die Einzigen, die sich ganz diskret den einen oder anderen Spaß gönnten und über einen Insider lachten.

Das war es, was ich von dem Abend erwartet habe. Inklusive eines indifferenten Lobs für den Chor am Ende, weil ich ihnen ja schlecht sagen kann, dass sie nicht gerade Santiano sind. Immerhin waren sie enthusiastisch, laut und haben einige Töne getroffen.
Aber auf dem Heimweg bin ich beinahe in Tränen ausgebrochen. Und das kam so... :

Da war dieser alte Mann.
Eventuell war er einer der Busreisenden. Aber ich glaube eher, dass es ein Einheimischer war. Küsten-Urgestein. Weniger ein waschechter Friese als eher ein alter Seemann. Von der Marine-Sorte. Also nicht mit Friesenmütze, sondern ganz normal angezogen. Wie ein Opa eben.
Schon früh hörte ich ihn einmal mitsingen, weil er eine sehr helle Singstimme hatte. Ein etwas zittriger Sopran oder so…
Offensichtlich kannte er die Lieder. Er war voll dabei. Und er sah so glücklich dabei aus.

Es war ihm nicht peinlich, mitten im Blickfeld aller anderen Anwesenden vor dem Chor zu stehen und mitzusingen. Auch wenn er sich mal versungen hat (oder - was ich nicht ausschließen will - der Chor beim Text getorft hat und er das richtige Original kannte.)
Er wippte und schunkelte mit und da war dieser Glanz in seinen Augen. Der Glanz glücklicher Erinnerungen.

Es tat mir so… weh, als er einmal mitten in eine einsekündige Stille hinein einen falschen Einsatz machte.
Er blickte sich um und es lachten so einige lauter oder leiser darüber. Nicht unbedingt hämisch. Nur amüsiert. Aber eben doch über eine Peinlichkeit, was dem alten Mann nicht entging. Auch wenn er es sofort abschüttelte.
Es tat mir von Herzen weh, dass die Leute von seinem Verhalten eher ein wenig peinlich berührt waren. Weil er… so glücklich war. Weil ich mir tausendprozentig sicher bin, dass er in Erinnerungen schwelgte.

Dieser Mann war alt genug, um noch in der Kriegsmarine gedient zu haben. Und ich scheiße gerade mal auf alles, was Schlimmes in Weltkrieg passiert ist. Ich denke jetzt nur an einen jungen Mann von vielleicht 20 zum Kriegsende, der bei der Marine war.
Diese Lieder von heute Abend… Er hat sie gesungen, als jedes Kind sie kannte. Als sie erfunden wurden.

Wenn er von dem Liebchen in jedem Hafen singt oder von Ausflügen auf die Reeperbahn, dann erinnert er sich. Vielleicht gab es diese Liebchen in fremden Häfen für ihn. Vielleicht könnte er heute noch ihre Namen nennen. Sogar Fotos zeigen. Alte, vergilbte, abgewetzte Fotos von rauen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit schon tot sind.
Diese Lieder erinnern ihn an seine Jugend. An eine Zeit als er noch gesund und kräftig war. Als er zur See fuhr und das Meer liebte. Als er ein Seemann war - und stolz darauf.
In seinen Augen konnte man eine Million Erinnerungen sehen. Zu jedem Lied andere. Weil diese Lieder eine Bedeutung für ihn haben. So wie viele Lieder aus meiner Lebenszeit eine für mich haben.

Wenn dieser Shanty-Chor diesen alten Mann noch einmal in seine Jugend zurückkehren lässt und er im Geiste noch einmal ein junger Mann ist, während die Sänger ihn wohlwollend in ihren Umtrunk einbeziehen…
Wer bin ich, solche Chöre dann albern zu finden?
Wer bin ich den Kopf zu schütteln, als der alte Mann nach Ende der Veranstaltung einigen Chormitgliedern seine eigenen Sangeskünste vorführte? Auch wenn es schräg und seltsam klang, weil er so hoch sang. Auch wenn ich die pikierten Gesichter einiger anderer Gäste der Veranstaltung im Grunde verstehe. Auch wenn ich es selbst ein klein wenig peinlich fand.

Ich meine…
Who the fuck cares?
Hat dieser Mann nicht das Recht, auch mal in seinen Erinnerungen schwelgen zu dürfen? Sollten wir nicht eher zuhören, wenn er ins Schwärmen kommt? Immerhin kann er uns Dinge erzählen, die in keinem Geschichtsbuch stehen. Und die verloren sein werden, wenn er stirbt.
Er hat erlebt. Und seine Erinnerungen sind ebenso wenig die Wahrheit, wie die Geschichtsschreibung die exakte Wahrheit aufzeichnet. Allein schon, weil Wahrheit immer im Auge des Betrachters liegt.

Ich hätte diesem Mann gerne die Hand geschüttelt. Hätte ihn gerne vom Kamerad zu Kamerad gegrüßt und ihn gefragt, auf welchem Schiff er gefahren ist. Kameradschaft mit ihm geteilt. Einfach nur, damit er weiß, dass er noch immer ein Teil des Kreises ist. Ein Seemann. Egal wie lange das her sein mag.
Aber er war so glücklich. Und was für ein Recht hätte ich gehabt, ihn mit meinem beschissenen Mitleid zu belästigen, weil ich immer daran denken musste, was er alles verloren haben muss.
An jedem anderen Tag - immer, wenn der junge Mann, der er einmal gewesen ist, ihm gerade ferner ist als an diesem Abend - wäre es das Richtige, denke ich. Alte Menschen sollten nicht einsam sein. Und sie können zum Lohn für ein wenig Gesellschaft so viel von ihren Erinnerungen teilen.
Aber heute wäre es nicht richtig gewesen. Mein Mitleid brauchte der alte Mann nicht. Er war für diesen Moment zufrieden mit der Welt, denke ich. Alles war gut und es war schön, alt zu sein und all die guten Erinnerungen zu besitzen.

Vielleicht ist es angesichts dessen irgendwie schräg, dass ich auf der Heimfahrt traurig war.
Vielleicht auch nicht…

Ich musste jedenfalls noch nicht einmal an all die Großeltern denken, die ich nicht mehr habe und die so viel zu erzählen gehabt hätten. Und auch nicht an die, die noch leben und die ich vielleicht nicht oft genug besuche, aber immerhin so oft es irgend geht. Oder mit ihnen wenigstens telefoniere.
Sind ja nur noch zwei Omas, von denen eine nicht einmal meine ist…

Nein, ich musste an die mögliche Vergangenheit des alten Mannes denken. Scheiß Fantasie eines Autoren, die mir da in die Quere kam.
Ich kann mir so leicht ausdenken, welche ‚Abenteuer‘ er im Laufe der Zeit erlebt hat. Welche Frauenbekanntschaften er hatte und wie sie verlaufen sind. Und wie all das heutzutage für ihn im Nebel der Vergangenheit hinter dem Horizont versunken ist, wenn er nicht gerade an einem solchen Abend durch Musik daran erinnert wird.

Vielleicht ist dieser Mann kein netter Mensch. Aber er ist ein Mensch. Und er hat es verfickt noch mal nicht verdient, allein an einem Tisch zu sitzen, während alle anderen Gesellschaft haben.
Egal was er einmal verbrochen haben mag. Das ist nicht fair. Eine Einzelzelle im Kerker der Einsamkeit verdient niemand.
Und deswegen bin ich traurig und gleichzeitig froh, dass dieser alte Mann heute einen schönen Abend hatte. Deswegen schäme ich mich für meine Verächtlichkeit, mit der ich diesen Shanty-Chor bedenke. Denn ohne diesen Chor hätte der alte Mann heute keine Erinnerungen gehabt, die ihn glücklich machten.

Deswegen ist das hier ein Regenbogenmoment.
Nicht für mich, weil ich gerade auch keinen verdiene.
Es ist einer für diesen alten Mann gewesen. Und ich gönne ihm den von Herzen!

Vielleicht denkst auch du, lieber Leser oder liebe Leserin, mal darüber nach, wenn du dich das nächste Mal über einen alten Menschen ärgerst, der sich der Geschwindigkeit unserer Zeit nicht anpasst. Oder, der sich seltsam verhält, weil er viele Jahrzehnte hatte, um sich schlechte Angewohnheiten anzulegen oder Bitterkeit anzuhäufen.
Alle diese Menschen haben eine Geschichte. Und alle haben hin und wieder einen Regenbogenmoment verdient.

Und es ist fucking bitter, dass schon ein einfaches Gespräch, bei dem ihnen jemand zuhört und sie erzählen lässt, oftmals so einen Regenbogenmoment darstellt…

Keine Ahnung, ob ich jetzt zu philosophisch werde. Also belasse ich es lieber dabei.

In diesem Sinne…
…jedem einen Regenbogenmoment von Zeit zu Zeit wünsche ich.

1 Kommentar:

  1. Diesmal hast Du es geschafft. Nicht, dass Du mich mit Deinen Texten und Geschichten nicht schon das eine oder andere Mal berührt hast. Nein. Aber diesmal fließen Emotionen über mein Gesicht. Du hast so verdammt Recht mit dem, was Du schreibst. Wie oft schon hat mich die Dankbarkeit alter Menschen für nur einen Hauch von Aufmerksamkeit beschämt? ...
    Danke für den Text und für das Wissen, mit derlei Gedanken und Gefühlen nicht ganz allein zu sein. Alexandra

    AntwortenLöschen